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Beitrag vom 07.04.2011
Diskriminierung von MigrantInnen in Deutschland bleibt bestehen
Claire Horst
Freudig verkündete die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, am 23. März 2011 einen Kabinettsbeschluss zum Anerkennungsgesetz für ausländische Berufsabschlüsse.
"Das Bohren dicker Bretter hat sich gelohnt: Die verbesserte Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist ein Gewinn für die Migranten und für unser Land", heißt es in einer Presseerklärung der Bundesregierung.
Denn in den meisten Fällen werden ausländische Bildungsabschlüsse in Deutschland bisher nicht anerkannt. Etwa 2,9 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund haben ihren höchsten Bildungsabschluss im Ausland erworben, schätzt das Bildungsministerium. Nur 300.000 davon sollen von der Neuregelung profitieren können – denn die bezieht sich nur auf bestimmte Berufsgruppen. "Diese Schätzung stützt sich insbesondere auf die Annahme, dass vor allem bei Arbeitslosen und unterhalb ihrer Qualifikation Beschäftigten mit einem ausländischen Berufsabschluss von einem hohen Anerkennungsinteresse auszugehen ist.", heißt es bei dem Ministerium.
Warum überhaupt die Gesetzesänderung? Natürlich geht es weniger darum, MigrantInnen zu besseren Arbeitsbedingungen zu verhelfen. Im Mittelpunkt steht der Wunsch, dem deutschen Arbeitsmarkt qualifizierte Arbeitskräfte zuzuführen: "Der demografische Wandel verändert unsere Gesellschaft und führt bereits heute in bestimmten Arbeitsmarktsegmenten zu einem Mangel an qualifizierten Fachkräften, etwa bei Medizin- und Erziehungsberufen, im Pflegebereich und bei sogenannten MINT-Berufen. Deshalb ist es wichtig, alle Qualifikationspotenziale im Inland zu aktivieren und zu nutzen. Zudem soll Deutschland für qualifizierte Zuwanderung attraktiver werden."
Mit dieser Attraktivität hapert es noch etwas. Vielleicht liegt es auch an den widersprüchlichen Botschaften, die hier verbreitet werden. Trotz aller Verkündigungen liegt das Anerkennungsgesetz noch in weiter Ferne – bisher müssen etwa LehrerInnen oder JuristInnen meist das gesamte Studium wiederholen. Die Sozialarbeiterin Nati P. aus Granada etwa hat bereits mehrere Jahre Berufserfahrung in Spanien und Großbritannien. "In Schottland musste ich nur ein einziges Seminar nachholen", sagt sie. In Deutschland hätte sie allenfalls eine Erzieherinnenstelle bekommen – oder noch einmal studieren müssen. Deshalb hat sie Deutschland schnell wieder verlassen. Eigentlich wollte sie nach ihrem Praktikum und Sprachkurs in Berlin hier arbeiten.
Und auch im Inland aufgewachsenen Menschen mit Migrationshintergrund wird der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht leicht gemacht. Neben Österreich ist Deutschland das europäische Land mit dem undurchlässigsten Bildungssystem. Das heißt: AkademikerInnen schicken ihre Kinder auf das Gymnasium, Kinder von ungelernten ArbeiterInnen besuchen meist die Hauptschule. Bildungsarmut vererbt sich – weil das Schulsystem diskriminiert. Kinder von MigrantInnen haben sehr viel schlechtere Chancen, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten – auch bei gleichen schulischen Leistungen.
Daher kann die Polizei noch so oft nach Auszubildenden mit Migrationshintergrund rufen, können BildungspolitikerIinnen sich noch so sehnlichst mehr LehrerInnen mit Migrationshintergrund wünschen: Die Betreffenden werden meist viel zu früh aussortiert. Kinder mit Migrationshintergrund verlassen die Schule mehr als doppelt so häufig ohne Abschluss wie "biodeutsche". Ihr Anteil an Gymnasien liegt unter 5 Prozent, an Hauptschulen dagegen bei 19,5 Prozent.
Und wer es gegen alle Widerstände schafft, sich durchzuboxen, scheitert vielleicht doch noch kurz vor dem Ziel. Cicek F. war bereits mitten im Referendariat, als ein Kommentar ihrer Mentorin den Ausschlag gab. "Früher habt ihr für uns geputzt, und jetzt wollt ihr unsere Kinder unterrichten", das war zu viel. Inzwischen schreibt die Germanistin ihre Doktorarbeit – sie ist lieber in die Forschung gegangen. Das ist unter ihren erschwerten Bedingungen ein großer Erfolg. 45 Prozent aller Studierenden mit Migrationshintergrund brechen ihr Studium ab – gegenüber 30 Prozent insgesamt.
Dabei würde Cicek F. wirklich gebraucht. Nur schätzungsweise ein Prozent der Lehrkräfte in Deutschland hat einen Migrationshintergrund – gegenüber 30 Prozent der SchülerInnen. Und die begehrten ExpertInnen aus dem Ausland? Olesya M. hat in Russland studiert und als Lehrerin gearbeitet. Ihr Abschluss wurde nicht anerkannt. Sie holte also das gesamte Studium noch einmal nach.
"Bei Lehrern aus Drittstaaten erfolgt ... in den allermeisten Fällen nur eine Teilanerkennung des im Ausland erworbenen Abschlusses als Erste Staatsprüfung, da die Lehrerausbildungen in anderen Staaten i. d. R. weder zwei Unterrichtsfächer, noch eine wissenschaftliche Abschlussarbeit noch einen Vorbereitungsdienst beinhalten. … Bei der Anerkennung der Berufsqualifikationen von Lehrern aus Drittstaaten wird die Berufserfahrung … grundsätzlich nicht berücksichtigt. Bei der Prüfung der Gleichwertigkeit eines in einem Drittstaat erworbenen Abschlusses spielt die nachgewiesene Berufserfahrung als Entscheidungskriterium keine Rolle, da Prüfungsmaßstab allein der Ausbildungsstand aufgrund der entsprechenden Abschlussprüfung ist", heißt es in einer Expertise des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus dem April 2009.
Mit der strukturellen Diskriminierung würde Olesya M. sich abfinden. Nach mehreren Jahren Unterrichtserfahrung plötzlich wieder Referendarin zu sein ist nicht leicht. Der alltägliche Rassismus, dem sie an ihrer Schule in einer bayerischen Kleinstadt ausgesetzt ist, ist noch schwerer zu ertragen. Von "russischen Pennern" schrieb ein Schüler in seinem Aufsatz, andere ahmen ihren Akzent nach. Eine Lehrerin müsse das aushalten, sagen ihre KollegInnen und Vorgesetzten. Oder vielleicht sei sie ja doch nicht geeignet für den Beruf?
Auf der Seite der Landesstelle für Gleichbehandlung findet sich eine Liste von Beratungsstellen bei Diskriminierung, zum Teil mit besonderen Arbeitsschwerpunkten (Sexuelle Orientierung, Herkunft, Alter).